Wissensraum

Wissensmanagement: Was weiß Ihr Team und warum?

Ich erinnere mich noch genau an einen meiner Dienstantritte in einer leitenden Position. Während ich kam, ging eine Mitarbeiterin einer Schlüsselposition. Es blieb mir kaum Zeit, mit ihrer Hilfe wichtiges Wissen über das Unternehmen zu erwerben. Ich wusste nichts über die stillen Regeln, die geheimen Strukturen, die etablierten impliziten Prozesse, die wichtigsten Player, die Mitarbeiter*innen (viele davon Externe). Und dann ging da auf einmal so viel Wissen. Weil eine langjährige Mitarbeiterin das Unternehmen verließ. Sie versuchte mich in der kurzen gemeinsamen verbleibenden Zeit noch schnell ins Boot zu holen, Übergaben zu schreiben, wichtigen Flurfunk weiterzugeben. Und dennoch war einiges an Wissen unaufhaltsam verloren. 

Wissenssicherung

Was tat ich? Ich sorgte dafür, dass das in dem Ausmaß nicht mehr passieren würde. Alles was mir bei der eigenen Einarbeitung wichtig schien, notierte ich. Ich strukturierte das Ablagesystem, dokumentierte wichtige Arbeitsschritte und legte Aufzeichnungen einzelner kleiner, implizit ablaufender Prozesse an. Im Team wurde so viel Wissen wie möglich sichtbar gemacht. Wir haben in der Zeit viel verschriftlicht und festgehalten.

Im Nachhinein betrachtet, war etwas anderes noch viel wichtiger: Ich begann die „Wissenskultur“ im Team zu verändern. Ich etablierte eine Stimmung, die erlaubte, Wissen zu teilen. Gleichzeitig versuchte ich darzulegen, dass es kein unnützes Wissen gibt und dass auch der „Flurfunk“ wichtige Informationen transportieren kann. Es wurde zur Selbstverständlichkeit, eigene Unterlagen an Kolleg*innen weiterzugeben und so übergreifendes Wissen aufzubauen. Das gelang manchen Kolleg*innen sehr gut, anderen war diese Art der Zusammenarbeit fremd. Das Wissen ist die Währung in einem Wissensunternehmen und je nach Kultur kann es zu einem gemeinsamen Schatz oder zu einer hart umkämpften Ressource werden. 

Mit meinem Wissen und meiner Erfahrung von heute würde ich deutlich strukturierter und zielorientierter vorgehen. Trotzdem glaube ich, dass ich damals aus Versehen einiges richtig gemacht habe. 

Open-Source

Noch heute treffe ich auf Mitarbeiter*innen in Teams, denen es schwer fällt die eigene Expertise auch anderen zur Verfügung zu stellen. Die Sorge ist in der Regel, dass andere dieses Wissen für sich nutzen könnten und sich einen Vorteil für die Karriere verschaffen. Dieser Gedanke ist für mich nachvollziehbar, wenn das Umfeld Anreize dazu schafft. „Information hiding“ als wichtige Schutzmaßnahme und als Machtinstrument sollte daher durch ein transparentes Informationsmanagement abgelöst werden. Das gilt wahrscheinlich nicht für alle Informationen – genau das ist die Kunst. Transparent darzustellen, wer Zugang zu welcher Form des Wissens hat und darüber auch einen Konsens zu finden. Das ist die gemeinsame Aufgabe des gesamten Teams. Das gemeinsame Ziel sollte sein, Wissen zu sammeln, aufzubereiten und zu bewerten. Jedem Mitarbeitenden steht dann die Möglichkeit offen, das Wissen sinnvoll zu nutzen und weiterzuentwickeln.  

Stilles Wissen

All das, was ich bisher beschrieben habe, trifft jedoch noch nicht das größte Problem, auf das ich bei meinem Dienstantritt traf. Der Verlust des „stillen Wissens“ (oder auch implizites Wissen) der ausscheidenden Mitarbeiterin. Das stille Wissen eines Unternehmens stellt uns alle vor eine große Herausforderung. Gemeint ist das Wissen, das vorhanden, aber nicht im Bewusstsein ist. Häufig beruht es auf Erfahrungen und Kompetenzen die erworben wurden und nun „unbewusst“ angewandt werden. Gerade Expert*innen „machen einfach“ und können nicht mehr genau erläutern, wie sie zu dem Ergebnis gekommen sind. Die Handlungen erfolgen spontan, automatisch und „aus dem Bauch heraus“.

Auf der Suche nach konkreten Zahlen zur Veranschaulichung des Ausmaßes impliziten Wissens, fand ich die Information, dass 90% des Wissens in einer Organisation implizit sind (vgl. Wah, 1999 zitiert nach http://www.implizites-mitarbeiterwissen.de/implizites-mitarbeiterwissen/). Wow, das ist eine krasse Aussage. 90% des Wissens sei nicht explizit zugänglich und könne verloren gehen, wenn Mitarbeiter*innen das Unternehmen verlassen. Nunja, da sollten wir wohl tunlichst dafür sorgen, dass die eigenen Leute bleiben, oder? Wahrscheinlich muss diese Zahl tatsächlich in Relation zum Unternehmen bewertet werden. Gleichzeitig ist nicht alles, was implizites Wissen darstellt, gleichwertig unternehmensrelevant. Dennoch: „the struggle is real“.

Wissen sichtbar machen

Kompetenzen setzen sich unter anderem aus dem erlernten expliziten Wissen (Basiswissen) und den individuellen Erfahrungen zusammen. Erst durch die Anwendung des Wissens auf unterschiedliche und neue Situationen, entsteht echte Handlungskompetenz. Gerade daraus entsteht aber auch viel implizites Wissen – denn nicht immer kann der*die Handelnde zurückverfolgen, auf Grundlage welchen erworbenen Basiswissens er eine Entscheidung gefällt hat. Puh, jetzt wird es hier ganz schön theoretisch und abgehoben… Ich verhelfe dem Ganzen mal zu einem Namen und gebe Ihnen eine Idee mit, wie wir zu einer von vielen (!) Lösungen kommen können:

Der „Reflective Practitioner“

Donald A. Schön hat bereits 1983 festgestellt, dass die Herausforderung in der Berufswelt vor allem darin besteht, mit einer unsicheren, komplexen und immer wieder neu auftretenden Situation fertigzuwerden. Das kommt uns doch sehr bekannt vor. Schön beobachtete, dass es eine Lücke gibt, zwischen der Wissenschaft – allgemein der Theorie – und der individuell geforderten Handlungskompetenz. Die Situationen, in denen wir handeln sind ja in der Regel nicht lehrbuchhaft. Dennoch sind wir nicht handlungsunfähig, sondern im Gegenteil durchaus kompetent darin, komplexe Situationen zu meistern. Diese Fähigkeit erlaubt uns unser „knowing-in-action“, also unser implizites Wissen. Als Möglichkeit, dieses Wissen sichtbar zu machen, beschreibt Schön die Fähigkeit, das eigene professionelle Handeln innerhalb einer Situation explizit zu reflektieren. Der „Reflective Practitioner“ ist geboren. Durch eine explizite Reflexion des eigenen Handelns während (reflection-in-action) oder nach (reflection-on-action) einer Situation wird implizites Wissen zunächst sichtbar gemacht und dann bewertet und weiterentwickelt. Klingt trocken, ist es aber gar nicht.

Neue Ideen für jede*n

Im Team lässt sich dieses Vorgehen gut als Methodik implementieren. Vor allem nach spezifischen Situationen – am Kunden, im Projekt, in Prozessabläufen – kann das gesamte Team das eigene Handeln reflektieren und gemeinsam überlegen, was das Team warum, wie gemacht hat. In Form von „Storytelling“ oder kleinen „Best-Practice-Beispielen“ können die Ergebnisse strukturiert, verschriftlicht und dauerhaft zugänglich gemacht werden.

Indem das Team die Handlungen, im Zusammenhang mit einer Herausforderung explizit darstellen, wird das Wissen im Unternehmen transparent. Jede*r kann teilhaben, daran lernen oder neue Ideen für die nächste Herausforderung entwickeln. Geschickt eingesetzt, hilft diese Methode auch noch als Motivator, denn sie erzählt immer wieder Erfolgsstorys des Teams. Selbst wenn eine Situation einmal nicht zufriedenstellend gelöst wurde, liegt der Erfolg doch darin, etwas Neues gelernt zu haben. Genial!

Mir fallen noch viele weitere Vorteile dieser Herangehensweise ein. Hier einzelne Stichpunkte:

  • Unterschiedliches Wissen wird ganz selbstverständlich zusammengeführt: Während der Hochschulabsolvent die aktuellsten Theorien und Erkenntnisse beitragen kann, kann die Dienstälteste mit praktischen Erfahrungen und Einordnungen unterstützen. Oder andersrum.
  • Lernen im Handeln: Lernen findet im Alltag statt und befasst sich mit den Themen, die gerade da sind. Das ist kosteneffizient und praxisnah.
  • Lernen am eigenen Modell: Das eigene Unternehmen zum Anlass zu nehmen zu lernen, das erscheint mir sehr sinnvoll. Und wenn man die eigenen Learnings auch noch veröffentlicht, können sogar andere von Ihrem Team lernen. Eine große Lerngemeinschaft also… Was für eine schöne Vision.
  • Stetige Reflexion: Eigenes Handeln auf verschiedenen Ebenen immer wieder strukturiert in Frage zu stellen, macht das Lernen aus. Eine Weiterentwicklung des Teams ist so unumgänglich.
  • …ich schließe an dieser Stelle erst einmal. Vielleicht fallen Ihnen noch weitere Vorteile ein?!

Voraussetzungen schaffen

Für mich schließt sich der Kreis der hier losen Ideen durch meine eigene Vorstellung vom Lernen in Unternehmen. Für mich ist ein agiles und ganzheitliches Wissensmanagement der Schlüssel für flexible, lernende Organisationen, die in der VUCA-Welt bestehen können. Erst durch das Zusammenspiel der eigenen Kompetenzen und der eigenen Werte mit der Unternehmenskultur und expliziten Methoden zur Wissenssicherung ergeben ein zukunftssicheres Wissensmanagement. Dabei muss das Unternehmen aus meiner Sicht sowohl den*die Einzelnen in der Selbstreflexion stärken, als auch das Zusammenspiel im Team. Die Abstimmung der Prozesse und Strukturen erfolgt dabei parallel.

Wie sichern Sie sich das Wissenskapital in Ihrem Unternehmen? Mit welchen Worten beschreiben Sie die Wissenskultur Ihres Teams?

Ich freue mich auf Ihre Geschichte!